Der Mittwoch
Am nächsten Tag begab ich mich, sobald es Nachmittag wurde, in den Stadtpark. Die Brüder erwarteten mich bereits. Wie ich es mir gedacht hatte, war heute der Mittwoch der Älteste, aber das hast du ja jetzt auch schon gewusst.
Ich war sehr begierig zu erfahren, was der Mittwoch zu berichten habe. Auch er war aufgeregt, und er begann so schnell zu reden, dass ich kein Wort verstand und ich ihn bitten musste, seinen Redefluss etwas zu bremsen. Etwas langsamer, aber immer noch sehr aufgewühlt, fuhr er fort in seiner Erzählung:
„Seit einigen Monaten treffe ich immer wieder ein kleines Männlein, das unentwegt in Eile ist. So auch heute. Ich grüße das Männlein höflich, aber es rief mir nur zu: ‚Keine Zeit, keine Zeit – muss weiter – weiter suchen – immer weiter –’. Bei dem Wort ‚weiter suchen’ wurde ich neugierig, und so folgte ich dem kleinen Mann, hielt ihn am Ärmel fest und fragte, was er denn so eilig zu finden hoffe.
‚Ach, das ist eine lange Geschichte’, seufzte das Männlein, ‚dafür habe ich jetzt keine Zeit.’ Auf mein Drängen und Bitten gab es aber nach und begann zu erzählen. Vorher allerdings musste ich noch versprechen, ihm bei der Suche zu helfen.“
„Wonach sucht ihr denn“, wollte ich wissen, „dass selbst du nicht mehr still sitzen kannst?“
Der Mittwoch überging meinen Einwurf, als hätte er ihn nicht gehört, und redete weiter, dabei unruhig hin und her laufend:
„Der Zwerg erzählte, wie er es vor vielen Jahren leid war, lange Gedichte auswendig zu lernen. Allein das Lesen beanspruchte bereits so viel Zeit! Also erfand er kurzerhand Zeitsparverse, die so winzig sind, dass sie nicht nur Zeit, sondern auch Papier sparen konnten.“
Jetzt wurde auch ich aufgeregt. Von solchen Gedichten hatte ich noch nie etwas gehört! Aber ich konnte nicht länger darüber nachsinnen, denn der Mittwoch fuhr bereits fort mit seiner Geschichte.
„Das Männlein hatte also ganz kleine Gedichte erfunden. Sie bestanden aus nur sechs Zeilen und in jeder Zeile stand nur ein Wort. So weit, so gut. Nachdem es aber das erste Gedicht geschrieben hatte, verlor es das letzte, das sechste Wort, und seitdem ist es unaufhörlich auf der Suche nach diesem Wort.“ Er machte eine kurze, nachdenkliche Pause, und ich ergriff die Gelegenheit zu fragen: „Und konntest du dem kleinen Männlein helfen, das letzte Wort wieder zu finden?“
„Nein“, der Mittwoch fing an zu schluchzen. „Das ist es ja, ich konnte es auch nicht finden.“ Darauf schlug ich ihm vor, es doch gemeinsam zu versuchen. „Wie fängt denn das kleine Gedicht an?“ erkundigte ich mich.
Der Mittwoch begann, das unvollständige Gedicht aufzusagen: „Eine / kleine / Ratte / hatte / süße…“, an dieser Stelle stockte er, „Ohren? Mützen? Freunde? Ich weiß es nicht!“.
Er begann so herzzerreißend zu weinen, dass sofort auch alle anderen Brüder in lautes Jammern und Wehklagen ausbrachen. Ich aber murmelte indessen fortwährend die fünf ersten Worte des kleinen Gedichtes vor mich hin, entschlossen, dieses Rätsel zu lösen:
„Eine kleine Ratte hatte süße…, eine kleine Ratte hatte süße…“ Das ging eine ganze Weile so, doch plötzlich hatte ich eine Idee. „Ich hab’ es, ich habe es gefunden!“ rief ich aufgelöst, „Ich habe das verlorene Wort gefunden!“
Sofort hörten die Brüder auf zu weinen. Sie sahen mich mit großen Augen an und riefen alle durcheinander: „Wie heißt das Wort?“ fragte der Montag, „Spann uns nicht auf die lange Folter!“ forderte der Dienstag, „Erzähl’ bitte schnell!“ bat der Mittwoch, und so weiter und so fort.
Es amüsierte mich sehr, die sieben Brüder so ungeduldig zu sehen, aber ich wollte sie nicht länger im Ungewissen lassen. „Füße“, rief ich, „das Wort heißt ‚Füße’!“
Ich wandte mich an den Mittwoch, der ja am meisten gelitten hatte. „Das Rätsel war eigentlich ganz einfach. Wir mussten nur ein Wort finden, das mit ‚süße’ einen Reim bildet und auch noch sinnvoll ist.“
Nun sagte ich langsam das ganze Gedicht auf:
„Eine /kleine /Ratte /hatte /süße /Füße.“
Die Brüder nahmen mich jubelnd in ihre Mitte und zusammen trällerten wir den vollendeten Vers. Ich war stolz, dass ich ihnen helfen konnte, obwohl sie doch so viel mehr wussten als ich.
„Danke, Leopold“, sprach mich da der Mittwoch an, unvermittelt den fröhlichen Reigen unterbrechend. „So ist das in dieser Welt. Die Kleinen lernen von den Erwachsenen, und die Großen lernen von den Kleinen. Die vergessen das nur immer wieder mal.“ Danach verabschiedete er sich behände von mir, denn er musste ja noch das kleine Männlein aufsuchen, um ihm die erlösende Nachricht zu überbringen.
Fröhlich eilte auch ich nach Hause, unterwegs immer wieder singend:
„Eine kleine Ratte hatte süße Füße.“